NIIVK Agat 4/7

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Agat - Made in Leningrad: Der andere Apple II

soviet microcomputer agat 7

By Sergei Frolov, Soviet Digital Electronics Museum, http://www.leningrad.su/museum/ - Own work

Als Anfang der achtziger Jahre im Westen Personalcomputer in Wohnzimmern Einzug hielten, blieb der digitale Fortschritt jenseits des Eisernen Vorhangs ein Traum aus Zeitschriftenfotos und Parteiberichten. Doch irgendwo in den Laboren von Leningrad und Moskau dachten Ingenieure laut darüber nach, wie man einen solchen Rechner selbst entwickeln könnte – mit sowjetischen Mitteln, unter sowjetischen Bedingungen. 1983, im Jahr, als der Apple II e längst ein Klassiker war, erschien der erste funktionsfähige Prototyp eines neuen, rein inländischen Systems: der Agat (Агат), benannt nach einem Halbedelstein, Symbol für Beständigkeit und Glanz. Der Name war Programm – dieser Computer sollte zeigen, dass auch der Sozialismus seine eigenen Edelsteine hervorbringen konnte.

Die Entwicklung begann am Wissenschaftlich-Technischen Zentrum für Rechentechnik in Leningrad unter der Leitung des Ingenieurs Анатолий Фёдорович Иоффе (Anatolij F. Ioffe). Ihm zur Seite stand der junge Konstrukteur Александр Юрьевич Кривцов (Alexander J. Kryvtsov), der später an der Leningrader Polytechnischen Universität lehrte. Beide Männer verband ein gemeinsames Ziel: ein System zu schaffen, das funktional mit dem Apple II vergleichbar war, aber vollständig aus sowjetischen Komponenten bestand. Der Westen sollte als Inspiration dienen, nicht als Lieferant.

Der erste Prototyp, das Agat-4, war ein technisches Abenteuer. Da der MOS 6502, Herz des Apple II, in der UdSSR nicht erhältlich war, griff man zu einer cleveren, wenn auch schwerfälligen Lösung: Der sowjetische К580ВМ80А, ein Nachbau des Intel 8080, wurde mithilfe zusätzlicher Logikschaltungen so programmiert, dass er den 6502-Befehlssatz emulieren konnte. Diese Emulation war ein Meisterstück der Improvisation – und zugleich ihre größte Schwäche. Während Apples Rechner jeden Maschinenbefehl direkt verarbeitete, musste der Agat-4 ihn umständlich übersetzen, was die Ausführung verlangsamte. Dennoch lief er stabil genug, um Programme in BASIC auszuführen und einfache Grafikroutinen darzustellen.

Die Ingenieure setzten alles daran, den Rechner so kompatibel wie möglich zu gestalten. Seine Speicherarchitektur orientierte sich an westlichen Vorbildern: 48 Kilobyte RAM, erweiterbar auf 128 KB. Die Platine bot mehrere 60-polige Erweiterungsslots – mehr als beim Apple II, allerdings mechanisch inkompatibel, was westliche Karten ausschloss. Damit wurde ein sowjetisches Paradoxon geschaffen: ein offenes System, das sich politisch geschlossen gab.

Der Bildschirm, meist ein in grünem oder bernsteinfarbenem Ton glimmender CRT, zeigte Text in 32 × 32 oder 64 × 32 Zeichen, dazu Grafikmodi bis 256 × 256 Pixel. Die frühen Agat-4-Modelle konnten 8 bis 16 Farben darstellen, wenngleich die Farbsättigung stark von der jeweiligen Röhrensorte abhing. Viele sowjetische Schulen verwendeten einfache monochrome Monitore, sodass der Agat in Erinnerung meist in sanftem Grün leuchtet – wie ein Fenster in eine Zukunft, die in Leningrad ein wenig anders aussah als in Kalifornien.

Als Massenspeicher diente zunächst ein handelsüblicher Kassettentonbandrekorder, später kam ein 5,25-Zoll-Diskettenlaufwerk mit etwa 140 KB Kapazität hinzu. Das Betriebssystem war eine sowjetische Adaption von Apple DOS 3.3, übersetzt und modifiziert, um den Emulationsprozessor zu unterstützen. Hinzu kam ein angepasster BASIC-Interpreter, genannt Бейсик-60, später Бейсик-67, dessen Dokumentation mit staatskonformen Parolen gewürzt war. In einer frühen Broschüre hieß es stolz: „Агат – первый шаг к социалистическому киберпространству.“ – „Der Agat ist der erste Schritt in den sozialistischen Cyberspace.“

Doch die Limitierungen des Agat-4 machten sich rasch bemerkbar. Viele Programme liefen zu langsam oder stürzten ab, wenn komplexe Grafikoperationen verlangt wurden. Also entwickelten Ioffe und Kryvtsov eine überarbeitete Version, die 1984 als Agat-7 in Serie ging – das erste wirklich massenproduzierte Modell. Diese Version setzte erstmals auf eine echte sowjetische Kopie des 6502-Prozessors (den КР580ВМ1) mit 1 MHz Taktfrequenz. Dadurch stieg die Geschwindigkeit deutlich, und die Kompatibilität zu Apple-Software wurde verbessert. Jetzt war es möglich, westliche Programme zumindest teilweise auszuführen, wenn sie zuvor auf sowjetischen Disketten übertragen worden waren.

agat7 1 768x917Der Agat-7 erhielt außerdem ein robusteres Metallgehäuse, eine neue Tastatur mit kyrillischer und lateinischer Beschriftung, sowie ein Netzteil, das nicht mehr regelmäßig überhitzte. Für die Massenfertigung sorgte das Werk „МЭЗ“ in Murom, das im Auftrag des Bildungsministeriums jährlich Tausende Geräte produzierte. Bis 1988 waren über 12 000 Agat-Rechner ausgeliefert, die meisten davon in Schulen und wissenschaftlichen Einrichtungen.

Mit einem Preis von etwa 3 900 Rubel war der Agat-7 jedoch ein Luxusartikel. Umgerechnet entsprach das etwa dem zehnfachen Jahresgehalt eines Lehrers, oder rund 15 000 bis 17 000 Euro nach heutiger Kaufkraft. Kein sowjetischer Bürger hätte ihn sich privat leisten können. Doch die Regierung sah im Projekt eine Investition in Bildung und nationale Unabhängigkeit. Der Agat wurde das Herzstück des Programms „Информатика для всех“ – „Informatik für alle“. In Hunderten Schulen entstanden Informatikkabinette mit je fünf bis zehn Rechnern. Der charakteristische Geruch nach erwärmtem Bakelit, Staub und Lötzinn wurde für eine ganze Schülergeneration zum Duft der Zukunft.

Die Entwickler des Agat erlebten ihre Arbeit zwischen Stolz und Frustration. In Interviews berichtete Ioffe später, man habe „gegen das Material gearbeitet“ – viele Bauteile seien unzuverlässig oder schwer zu beschaffen gewesen. Kryvtsov erinnerte sich, wie sie Platinen manuell testeten, weil automatische Prüfgeräte fehlten: „Manchmal funktionierte ein Agat nur, wenn man ihm gut zuredete.“ Diese Mischung aus Witz und Resignation zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des sowjetischen Computings.

Apple selbst reagierte nie offiziell. In Cupertino wusste man von Klonen hinter dem Eisernen Vorhang, aber da keine Handelsbeziehungen bestanden, sah man darüber hinweg. In einem später veröffentlichten Memo aus dem Jahr 1984 soll ein Manager süffisant bemerkt haben: „If imitation is the sincerest form of flattery, the Russians must love us very much.“ („Wenn Nachahmung die ehrlichste Form der Schmeichelei ist, müssen die Russen uns wirklich sehr lieben.“) Tatsächlich fühlten sich viele sowjetische Ingenieure von Apple inspiriert, ohne das Gefühl zu haben, etwas zu stehlen – sie sahen sich eher als Übersetzer einer Idee in ihre eigene Sprache.

Im Vergleich zu anderen sowjetischen Rechnern – etwa dem BK-0010 oder dem Корвет (Korvet) – war der Agat weniger modern, aber symbolisch bedeutsamer. Er war das sichtbare Zeichen, dass Mikrocomputer in der UdSSR nicht länger nur im militärischen oder wissenschaftlichen Bereich existierten. Schüler schrieben ihre ersten BASIC-Programme, Lehrer experimentierten mit Lehrsoftware, und an Universitäten entstanden die ersten sowjetischen Spiele, inspiriert von westlichen Vorbildern, aber eigenwillig umgesetzt.

Die Pros des Agat waren seine robuste Bauweise, seine Erweiterbarkeit und die gute Dokumentation für den Bildungssektor. Die Contras: begrenzte Geschwindigkeit, hohe Kosten und Inkompatibilität zu echter Apple-Hardware. Dennoch erfüllte der Rechner seinen Zweck. Er lehrte Denken in Strukturen, Schleifen und Logik – und das in einer Gesellschaft, in der solche Denkweisen selten gefördert wurden.

Als das Projekt Anfang der neunziger Jahre auslief, hinterließ der Agat keine industrielle Revolution, wohl aber eine intellektuelle. Viele spätere russische Programmierer und Elektronikentwickler begannen ihre Laufbahn an einem dieser grün flimmernden Monitore. Heute stehen funktionstüchtige Geräte in Museen und Sammlungen, manche noch mit Original-Disketten, auf denen in kyrillischer Handschrift „Учебные программы“ – „Lernprogramme“ – steht.

Rückblickend war der Agat vielleicht weniger ein Computer als ein kulturelles Experiment: der Versuch, den westlichen Traum vom Personal Computer in den Kontext des Sozialismus zu übersetzen. Und während der Apple II in Kalifornien die Fantasie von Freiheit befeuerte, stand der Agat in Leningrad für die Hoffnung, dass Wissen selbst im Schatten des Eisernen Vorhangs blühen konnte.

Veröffentlicht in Systeme.

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